insider Magazin - Ausgabe2

SCHNEEBALLSYSTEM: WER HAT’S ERFUNDEN? Hört man den berüchtigten Begriff Schneeballsystem innerhalb der Finanzbranche, denken die älteren Finanzexperten schnell an Bernie Cornfeld und seinen IOS-Vertrieb. Jüngere wiederum verbinden mit dem Begriff eher die Namen „S&K“ oder „Infinus“. Kaum einer wird stattdessen Adele Spitzeder auf dem Zettel haben. Dabei war sie es, die einst Banken und Anleger nachdrücklich an der Nase herumgeführt hat. m 12. November 1872 verhaf- tete die Münchner Polizei Ade- le Spitzeder, Eigentümerin der Spitzederschen Privatbank. Ein Kon- kursverfahren wurde eröffnet und was dabei herauskam, war ungeheuerlich. Nicht nur war die Bank hoffnungslos überschuldet und über 30.000 Men- schen waren schlagartig bankrott. Die Untersuchungen deckten auch das ers- te aktenkundige Schneeballsystem der Welt auf. Drei Jahre lang hatten Adele Spitzeder und ihre Bank von der Gier und der Ahnungslosigkeit der Anleger gut gelebt. Bis alles zusammenbrach. Schauspielerin, Luxusweib und Vertriebsfrau Adele Spitzeders Leben und Karriere begannen verheißungsvoll. Als Tochter bedeutender Schauspieler wurde ihre Schauspielausbildung vom bayerischen König Ludwig I. gefördert. Erfolg hatte sie dabei jedoch nicht. Kein festes En- gagement, dafür aber ein luxuriöser Le- benswandel, der nur durch Schulden zu finanzieren war. Nach einem Jahr stand ihr das Wasser bis zum Hals. Anfang 1869 hatte Adele Spitzeder eine Idee: Sie schaffte es, ein Zimmermannsehe- paar zu überreden, ihr die gesamten Er- sparnisse von 100 Gulden anzuvertrau- en, und versprach glaubhaft 10 Prozent Zinsen im Monat, wenn sie ihr das Geld für drei Monate gäben. Hierbei halfen ihr die schauspielerischen Fähigkeiten, denn schon damals war das ein absurd hohes Zinsversprechen. Und um ihre Ehrlichkeit und ihre guten Absichten zu unterstreichen, zahlte sie die Zinsen für die ersten zwei Monate auch sofort aus. Das System läuft In der Folge erzählte das Zimmermanns- paar von der großartigen Anlage im vertraulichen Freundeskreis. Rechtzei- tig bevor Spitzeder die Schuld zurück- zahlen hätte müssen, kamen weitere Einlagen, alle von kleinen Arbeitern, Händlern, Handwerkern. Jeweils 10 Prozent Zinsen im Monat, jeweils ange- legt auf drei Monate. Die ersten „Kun- den“ konnten ausbezahlt werden und legten gleich wieder 130 Gulden an. Das Schneeballsystem war im Fluss. Schnell wurden die Dimensionen gigan- tisch. Das kleine Geldhaus der Adele Spitzeder bekam den Namen „Dach- auer Bank“, da die vielen Arbeiter, die in den Lederwarenfabriken Münchens schufteten, hauptsächlich aus dem Da- chauer Land kamen. Adele sammelte weiter Geld, nicht nur Gulden flossen ihr zu, auch Wertpapiere, die ihr als Ersatz für Bareinlagen angeboten, um nicht zu sagen aufgedrängt, wurden. Zu- dem führte Sie ein Leben ins Saus und Braus, investierte aber auch viel Geld in öffentlichkeitswirksame Auftritte. Unrühmliches Ende Im Jahr 1872 war das Geschäft so riesig geworden, dass täglich bis zu 100.000 Gulden eingezahlt wurden. Aber auch das Misstrauen stieg. Das Bayerische Innenministerium und die Münchner Polizei warnten in Anzeigen vor der Spitzeder-Bank. Und es kam, wie es kommen musste. Im November 1872 brach das System zusammen und hinterließ über 30.000 Gläubiger. 64 © Stadtarchiv München

RkJQdWJsaXNoZXIy NzA3OTc4